Markus Till, Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen, Witten/ Holzgerlingen 2019, 256 S., Hardcover gebunden, ISBN 978-3-417-26880 – EUR 16,99.

Von einem, der sich aufmachte, inmitten eines theologischen „Bruderstreits“ die Möglichkeiten eines Neuanfangs für die „Sich-Voneinander-Wegbewegenden“ aufzuzeigen. Dieser eine ist der promovierte Biologe Markus Till, der mit diesem Buch „Zeit des Umbruchs“ als bekennender und aktiver Christ und Gemeinderat seiner Ortsgemeinde in der württembergischen Landeskirche engagiert dafür eintritt, dass die evangelikale Bewegung im deutschsprachigen Raum nicht weiter zerbricht und damit in der Gefahr steht, vor die Hunde zu gehen, sondern sie dazu motiviert werden kann, sich auf das Wesentliche des evangelikal-christlichen Glaubens zu besinnen und zur das Evangelium bekennenden Einheit zurückzufinden, allerdings zu keiner beliebigen, sondern zu einer qualifiziert an biblischen Aussagen orientierten Einheit in Liebe und der Wahrheit verpflichtet (Kap. 8 und „Ausblick“, S. 202-237).

Aber der Reihe nach. Worum geht es? Es ist kein Geheimnis, dass das theologisch konservative Christentum, darunter insbesondere die breit aufgestellte evangelikale Bewegung in ihren pietistischen, freikirchlichen, landeskirchlichen und mitunter charismatischen Spielarten, in eine dramatische Sinnkrise hineingeraten ist. Das, was seit Generationen – sicherlich in Variationen – als klassisches, genuin biblisch-evangelikales Christentum in Lehre und Leben galt, wird seit wenigen Jahren aus den Reihen der Evangelikalen selbst massiv in Frage gestellt. Nicht die liberal-bibelkritische Infragestellung christlicher Hauptsätze ist daher das von Till adressierte Problem, mit dem sich ja konservativ-reformatorisch gesinnte Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften sowieso schon seit über 200 Jahren theologisch herumschlagen, sondern die Auflösung der mitunter zentralen Lehrüberzeugungen und der ethischen Lebensmodelle, die als „typisch evangelikal“ galten, aus der Mitte der evangelikalen Bewegung selbst heraus, ist das große Drama, um das sich das Buch inhaltlich dreht.

Letztlich wird in Tills Buch eine christliche Tragödie eines Bruderstreits aufgezeigt, der sich u.a. in Spaltungen von christlichen Gemeinden und Verbänden sowie in gegenseitigen Verwerfungen und Verletzungen unter Christen und Gemeindeleitern – manchmal an einem Ort, in einer Ortsgemeinde – wahrnehmen lässt. Und dieses Problem, dieser sich ausweitende „Riss“ unter den Evangelikalen, dieser „theologische Bruder- und Frömmigkeitsstreit“, ist nicht nur eine besorgniserregende Herausforderung für die evangelikale Bewegung im deutschsprachigen Raum, sondern darüber hinaus eine, die ganze westliche Welt samt ihren evangelikalen Gruppierungen tangiert und provoziert. Deshalb ist dieses Buch “Zeit des Umbruchs“ – das sei hier schon vorweggenommen – ein wichtiger Meilenstein (dem noch weitere folgen müssen!) für die, die ernsthaft gewillt sind, die evangelikale Bewegung mit ihren theologisch wertvollen und weiterhin gültigen Beiträgen zum christlichen Glauben nicht aufzugeben.

Markus Till bietet in acht Kapiteln, mit einem einführenden Kapitel „Die Welt ist im Wandel“ (S. 7-19) und einem „Ausblick: Warum wir allen Grund zur Hoffnung haben“ (S. 230-237) eine gut nachvollziehbare sowie eine ansprechend strukturierte und prägnante Analyse dieses „Risses“ im Evangelikalismus und zeigt zugleich Möglichkeiten auf, wie ein weiteres Auseinandertriften gestoppt werden könnte. Till bedauert zutiefst diese Entwicklungen, erkennt Fehlverhalten und Missverständnisse auf beiden auseinanderdriftenden Seiten, bei den Evangelikalen, wie bei den Postevangelikalen, will sich aber mit dieser Gefahr des drohenden „Abbruchs“ der Beziehung zueinander nicht zufrieden geben, sondern auf Hoffnung hin will er begehbare Wege aufzeigen, die den Riss zu beseitigen vermögen. Dieses Anliegen ist vorbildlich.

Im einführenden Kapitel „Die Welt ist im Wandel“ (S. 7-19) sensibilisiert Till die Leser dahingehend, die Phänomene der unterschiedlichen gesellschaftlichen Wandlungen, insbesondere die  seit dem 2. Weltkrieg, wahrzunehmen. Die aus den Wandlungen sich aufbauende Spannung zwischen der „bunten Vielfalt“ des Marktes gesellschaftlicher und privater Lebensmöglichkeiten, die heutzutage viele begrüßen, und der Verunsicherung der anderen „vielen“ durch „Heimatverlust“ (S 8) gehört zum Lebensgefühl unserer westlichen Kulturkreise, denen auch Christen sich nicht entziehen können und unter den denen sich diese Spannung in der Vielfalt von Frömmigkeitsvarianten der Gegenwart ebenfalls spiegelt, resümiert Till (S. 8-9). Unter diesen Spielarten entwickelte sich nun auch ein Frömmigkeitstrend, der u.a. „postevangelikal“ genannt wird (S. 9). Damit werden solche Christen identifiziert, die ursprünglich (von Kindesbeinen an oder seit ihrer „Bekehrung“) aus der genuin evangelikalen Glaubens- und Lebenswelt herkommen, die sich aber nun aus unterschiedlichen (biographischen und/ oder theologischen) Gründen nicht mehr (vollständig) mit dieser Bewegung identifizieren wollen und können, die ihre evangelikale Heimat (und manchmal sogar den christlichen Glauben insgesamt) verlassen. Sie verlassen i.d.R. ihre evangelikal geprägten Heimatgemeinden und Glaubensüberzeugungen und suchen stattdessen neue ideelle Netzwerke von Gleichgesinnten.

Zu diesen postevangelikalen Netzwerken – so Till – zählt u.a. in sehr einflussreicher Weise das Internetportal „Worthaus“ („ein echter Internet-Hit“, S. 12), das durch Vorträge „rhetorisch herausragender“ und theologisch gebildeter Referenten teilweise theologisch und ethisch gute, christlich-klassische Überzeugungen einer immer größer werdenden Anhängerschar zu vermitteln versucht, aber dann mehrheitlich ganz „andere“ Wege aufzeigt, die von der klassischen evangelikalen Lehre ziemlich weit entfernt verortet werden müssen (S. 10-11). Till schreibt: „Umso mehr verwirrte mich die Tatsache, dass Worthaus ganz offensichtlich mitten in meiner evangelikalen Community große und anscheinend weitgehend unkritische Beachtung fand. Schon der ursprüngliche Anstoß für die Gründung von Worthaus ging auf eine evangelikale Veranstaltung zurück“ (S. 11).

Um dieser „Verwirrung“ auf den Grund zu gehen und festzustellen, warum ehemals Evangelikale ihre evangelikale Heimat verlassen, will Till untersuchen, wie es zu diesen beiden theologisch so stark divergierenden Lagern kommen konnte, warum Christen eigentlich miteinander streiten (S. 14). Till will Antworten suchen und verstehen lernen, wie es zum Riss zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen gekommen ist (S. 13-19). Sein Ziel formuliert Till dabei folgendermaßen: „Dieses Buch will ja nicht nur einen Konflikt beschreiben. Es will vor allem auch ein Mutmacher sein. Denn so viel ist sicher: Gott ist am Werk in unserem Land und in der Kirche Jesu! So schmerzhaft viele Diskussionen und manche Trennungen auch sind: Wir haben als Christen allen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen“ (S. 17). Diesem Ziel wird das Buch vollumfänglich gerecht.

Das Kapitel 1 eröffnet die inhaltliche Auseinandersetzung des Buches nun mit einer Frage: „Ein Riss durch die evangelikale Bewegung?“ (S. 20-40), die andeutet, dass erklärt werden muss, um was es sich denn genau bei diesem Riss inhaltlich handelt, von dem die Rede sein soll. Von dem gesellschaftlichen Wandel ausgehend, von dem bereits die Rede war, präsentiert Till nun seine Wahrnehmung, dass seit den 70iger Jahren des 20. Jhts. die weitgehend abgrenzbaren, klassisch-christlichen Positionen (konservativ, liberal, charismatisch-pfingstlerisch) sich immer mehr untereinander vermischt hätten und die Grenzen von Frömmigkeitsstilen und Gemeinderichtungen immer durchlässiger geworden seien (S. 20-21). Durch biographisch persönlich gehaltene Erfahrungen skizziert Till, wie ihm dementsprechend das Phänomen, das „postevangelikal“ genannt werden kann, persönlich auffiel und begegnete (S. 22-38). An zentralen Themen des Glaubens nennt Till ausgewählte auffallenden Gründe, wie und warum Postevangelikale „andere“ Wege gehen, ihre evangelikale Heimat verließen, beispielsweise identifizierbar durch das post-charismatische Syndrom der durch pfingstlerisch-charsmatische Enthusiasten Desillusionierten und Verletzten (Dritte Welle, Toronto-Segen usw.), die daraufhin neue Wege suchten, oder durch starke Trends bibelkritisch-liberaler und dekonstruktiv-progressiver Theologie mitten in evangelikalen Kerngemeinden oder durch Neudeutungen zentraler christlicher Überzeugungen, wie die zur Kreuzestheologie, zur Bekehrung, zum Missionsverständnis oder zu dem, was die Bibel ist und wie man sie sachgerecht auslegt. Till dazu: „Das postevangelikale Denken bedeutet vor allem auch, offen, »open minded« zu sein, sich inspirieren zu lassen. Es geht nicht darum, dass der eine dem anderen erzählt, was geht und was nicht“ (S. 28). Markus Till sieht darin den Verlust von verbindlichen, objektiven Glaubenswahrheiten gespiegelt.

In seiner Analyse wird die anfangs eingeführte Metapher des soziologischen Wandels so gedeutet, dass manche Evangelikale aus unterschiedlichen Gründen dem althergebrachten Glauben und seinen Inhalten nichts mehr abgewinnen könnten und sie sich daher abwendeten, sie quasi einen „Umzug“ (M. Benz) vollzögen (S. 37). Was da geschehe, müsse ernst genommen werden, denn es gleiche einem „Riss“ (R. Krüger) quer durch alle Verbände und Gemeinden (S. 39), der Christen, die einmal auf einem gemeinsamen Weg waren, schmerzhaft voneinander trenne.

In den nachfolgenden Kapiteln 2-4 legt Till nun einfühlsam, verständnisvoll und an Beispielen und sprachlichen Illustrationen sachkundig dar, wie dieser schwerwiegende Riss zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen beschrieben und teilweise auch begründet werden kann (S. 41-106) und wieso das Gespräch miteinander unter den Sich-Trennenden so schwierig ist: „Drei Themen spielen dabei eine besondere Rolle: Persönliche Verletzungen, Vorurteile und Missverständnisse“ (S. 40). Die Stärke dieser Kapitel liegt in der sachlich guten Analyse der Konflikte unter den Kontrahenten im Bruderstreit und im einfühlsamen Gespür für die Lage hinsichtlich der Wahrnehmung von Evangelikalen durch Postevangelikale und von Postevangelikalen durch Evangelikale.

Zu welcher Fraktion auch immer der Leser des Buches gehört, diese Kapitel sind ein „Muss“, weil sie aus der Erfahrung und Beobachtung zum Teil richtig schmerzhaftes Fehlverhalten aufzeigen, das es prinzipiell unter Christen welchen Bekenntnisses auch immer so nicht geben sollte, es aber dennoch zuhauf gibt. Ein breites Lernfeld also rund um gegenseitige Verletzungen, Vorurteile und Missverständnisse, das jeden zur persönlichen Demut im Denken und Urteilen anderen gegenüber motivieren kann.

Nicht zuletzt an dieser Stelle ist es von großem Vorteil, dass der Autor konservativer Evangelikaler ist, dabei Nichttheologe, der zugleich aktiv und leidenschaftlich zur Landeskirche gehören will, er also kein Freikirchler und auch kein ausgebildeter Theologe ist. Dieses nur noch selten vorkommende Exemplar einer solchen Frömmigkeitsmischung vermag vermutlich in besonderer Weise, Landeskirchler, Freikirchler, Theologen und Nichttheologen und andere Fromme an den Tisch zu holen, ohne zugleich unnötig zu polarisieren, was bei einem freikirchlichen Autor oder einem Theologen schnell der Fall gewesen sein dürfte.

Die exemplarisch aufgezählten Beispiele von „Missverständnissen“ (Kap. 4) unter den Kontrahenten, wie das Missverständnis in der Deutung der Auferstehung Jesu, der Kreuzestheologie, der Bibelkritik, des Wort-Gottes-Verständnisses, der Irrtumslosigkeit (S. 86-99) sind sachgerecht skizziert worden. Dennoch scheint mir hier (wie ähnlich an anderen Stellen des Buches) der Begriff „Missverständnis“ nicht immer passend gewählt zu sein. Hier hätte zumindest auch schon Mal angedeutet werden müssen, dass es in diesen zentralen theologischen Lehraussagen nicht einfach nur um „Missverständnisse“ geht, die irgendwie im Dialog geklärt werden könnten, sondern dass es da auch so etwas im Christentum gibt, das man als Irrtum im Kontrast zur Wahrheit kennen und benennen muss, ohne diese Unterscheidung an dieser Stelle des Buches sogleich schon zu vertiefen. Trotzdem ist die Aufzählung und Darstellung der vorhandenen Missverständnisse gut gelungen, hilft sie doch der Leserschaft im Blick auf die genannten Problemfelder noch wachsamer und aufmerksamer zu werden (Sensibilisierung) und letztlich das Gespräch miteinander vorzubereiten, das Till als Ziel nicht aus den Augen verlieren möchte.

Ab Seite 100 werden „Schubladenbegriffe“ aufgegriffen und erörtert, Quellen von Missverständnissen. Till schreibt: „Fundamentalist. Progressiver. Orthodoxer. Reformierter. Charismatiker, Pietist … Der Dschungel aus Lagern und Gruppierungen wird immer unübersichtlicher“ (S. 100). Und Till hat Recht, dieses Schubladendenken führt schnell zu völlig unbefriedigenden und auch unnötigen Vorurteilen und Missverständnissen untereinander. Deshalb will er hier aufklären (S. 100-106), damit „wir“ untereinander „ehrlicher und verständlicher kommunizieren“ (S. 105).

Dann geht es ans Eingemachte. Kapitel 5 ist überschrieben mit „Auf der Suche nach den Knackpunktthemen“ (S. 107-154). Neben den eher seelsorgerlich gestalteten, um Verständnis und Kommunikation bemühten und damit abholenden Kapiteln 1 bis 4 folgt nun das Kernstück des Buches, die Analyse der „Knackpunktthemen“.

Till greift zu Beginn eine weit verbreitete Auffassung auf: „Immer wieder begegnet mir die These, Evangelikale und Postevangelikale widersprächen sich gar nicht wirklich. Sie hätten nur unterschiedliche Betonungen und Schwerpunktsetzungen, aber keine grundsätzlichen Differenzen. Wenn sie das erkennen würden, könnten sie wunderbar zusammenarbeiten“ (S. 108). Dabei kann es für Till durchaus sein, dass es Themen geben kann, wo wirklich keine Differenz zwischen einem evangelikalen oder postevangelikalen Verständnis eines Sachverhaltes gibt (S. 108-111). Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dennoch gravierende dogmatische und ethische Unterschiede gibt, die benannt werden müssen (ab S. 111f.). Zu diesen divergierenden Lehrüberzeugungen gehören zentrale christliche Themen, die keine Nebensächlichkeiten ansprechen, sondern die primär den Kern des Evangeliums betreffen, wie das Eingreifen Gottes in Raum und Zeit, die Bedeutung der Auferstehung, die Deutung des Todes Jesu am Kreuz und die fehlerfreie Überlieferung der Offenbarung Gottes in der Bibel.

Diese vier Themenbereiche diskutiert Till nun mit Sachverstand auf über 40 Seiten, indem er die konträren Sichtweisen von Evangelikalen und Postevangelikalen jeweils gegenüberstellt. Wenn man die Zielsetzung des Buches berücksichtigt, sind die auf diesen Seiten erörterten Ausführungen Tills sehr wertvoll, insbesondere in ihrer Prägnanz und Präzision der theologischen Gegenüberstellungen. Bei der reinen Analyse der Unterschiede bleibt Till nun aber (Gott sei Dank!) nicht stehen, sondern in allen Kapiteln seines Buches, so auch insbesondere in Kap. 5 (Knackpunktthemen), positioniert sich Till, indem er bekennend formuliert, wie er zu Wundern, zur Auferstehung Jesu, zur Kreuzestheologie und zur Schrift steht, also aus seiner evangelikalen Grundüberzeugung her argumentierend. Das macht er durchaus sympathisch, ohne dabei borniert oder apodiktisch aufzutreten, allerdings auch leidenschaftlich, wenn es beispielsweise um das Kreuz geht, bei dem das Herz des Evangeliums verloren gehe („es geht um unglaublich viel“, S. 133), würde es postevangelikal entmächtigt durch den dort vertretenen Verzicht auf eine biblisch gegründete Sühneopfertheologie (S. 133-135).

Ab S. 135 bis S. 148 entfaltet Till nun aus seiner Sicht das entscheidende Knackpunktthema, die Frage nach der Bibel, ob „der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung“ sein könne. An dieser Stelle – so Till – gehen die Wege der Kontrahenten gravierend auseinander, eben bei den vollzogenen Entscheidungen unter Evangelikalen und Postevangelikalen in der Bibelfrage. Für Till ist die Bibelfrage der „Kern der Diskussion“ überhaupt (S. 136). Diese Beobachtung ist gewiss wichtig. Dennoch muss zurückgefragt werden, ob der Kern nicht doch in der divergierenden Kreuzestheologie (Stellvertretung, Sühnetod usw.) samt Auferstehungstheologie liegt. Dieser Aspekt hätte aus meiner Sicht zumindest zusätzlich erörtert werden sollen, da im Bereich der Soteriologie die Heilsfrage von Menschen zur Debatte steht, die eine falsche Bibelhaltung jedoch noch nicht in jedem Fall tangiert. Das „andere Evangelium“ (Galaterbrief), das Paulus so in Rage brachte, basierte auf einer falschen Heils-, Gnaden- und Christuslehre. Diese Schwerpunkt gilt auch noch heute.

Sei es drum, die dargebotene und geführte Diskussion zur Bibelfrage lässt kaum etwas zu wünschen übrig; sie ist kurzweilig geschrieben und lesenswert vom Anfang bis zum Ende.

Ab S. 149, von der Diskussion um die Bibelfrage herkommend, stößt der Leser nun etwas unvermittelt auf das umstrittene ethische Thema der Homosexualität. Ob man ethische Fragen im Buch nicht hätte gesondert erörtern sollen, soll hier zumindest angemerkt werden. Till bleibt seiner Linie auch hier wieder treu. Seelsorgerlich-empathisch und kommunikativ entfaltet er das Thema, um schließlich begründet seine evangelikale Überzeugung pointiert, aber durchaus bei Andersdenkendes um Verständnis werbend, zur Sprache zu bringen (S. 149-153), die – wie bei den übrigen Knackpunktthemen auch – mit der postevangelikalen Auffassung ziemlich stark kollidiert.

Ausgehend von Tills Überzeugung, dass die Schriftfrage „das“ entscheidende Thema sei, das unter Evangelikalen und Postevangelikalen zum trennenden Riss führe, entfaltet er nun in Kapitel 6 Kommunikationsmöglichkeiten, die helfen sollen, wie man „sich streiten und trotzdem lieben“ könne (S. 155.-183). Erneut ist das insgesamt im Kapitel Dargestellte sehr hilfreich, auch gerade Tills „Zehn Regeln für einen fruchtbaren Dialog“ (S. 161ff.), den sich jeder Leser beider Lager durchaus hinter die Ohren schreiben sollte. Regel 8, „Vom Heiligen Geist abhängig bleiben!“, ist sicherlich wichtig und korrekt, doch wie man diese Regel denn nun tatsächlich im echten Gespräch beherzigen soll, bleibt doch ziemlich unklar, da ja Evangelikale und Postevangelikale mehr oder weniger damit rechnen, dass Gott jetzt im (Streit-)Gespräch mit ihnen sein würde. Deshalb in Ergänzung: Gereifte Weisheit, Menschenkenntnis, gesunder Sachverstand, Selbstbeherrschung und auch logische Vernunft gehören mit der bewussten Auslieferung an den Heiligen Geist zum „Instrumentarium“ eines fruchtbaren Gesprächs, das dazu beitragen kann, dass die Debatte nicht eskaliert.

Dann wieder – für mich fehlplatziert – das Thema Homosexualität (S. 175-182). Klar, das ist ein aktuell ziemlich strittiger christlich-ethischer Themenbereich, der die emotionalen Wellen der Kontrahenten in der Debatte hoch schlagen lässt. Doch ist er so prominent zu behandeln, wie Till es zwei Mal im Buch vorschlägt? Ich habe da meine Bedenken und Rückfragen an diese Konzeption im Buch. Es gäbe da durchaus Wichtigeres, das betont unter die Lupe genommen werden könnte. Und außerdem, wenn schon ethische Themen, hätte man diese nicht in einem gesonderten Kapitel exemplarisch diskutieren können?

Kapitel 7 sucht zwischen Enge und Weite einen Weg des Miteinanders in Ausgewogenheit (S. 184-201). Es geht Till darum, dass zwischen tatsächlichen Randthemen und Kernthemen christlicher Überzeugung unterschieden werden muss, um die Gesprächskultur zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen zu entkrampfen. Die vorgestellten Beobachtungen sollten im Sinne von Tills Absicht durchaus beherzigt werden.

Zusätzlich betont Till, dass es Themenbereiche gibt, bei denen es auf keinen Fall zu faulen Kompromissen kommen dürfe, bei denen es vielmehr unbedingt „tragfähige Antworten“ benötigt. Zu diesen Kernthemen (vergleichbar den reformatorischen Exklusivpartikeln solus Christus, sola sciptura) zählt er, 1. die Person Jesus Christus und 2. die Autorität der Heiligen Schrift. Christus und die Bibel stehen für Till in einem begründbaren und untrennbaren Zusammenhang, der von Evangelikalen wie Postevangelikalen bedacht werden müsse und der nicht auseinanderdividiert werden dürfe (S. 190-195).

Ab S. 196f. werden darauf aufbauend vier Prinzipien genannt, die Till zur Prüfung von Lehren und Bewegungen heranziehen möchte, 1. „Freiheit in Randthemen, in denen die Bibel nicht eindeutig ist“, 2. die „Verwurzelung in Tradition und Bekenntnis“, das „Kriterium der Frucht“ und 4. „Sich nicht an Formen stoßen“. Diese Ausführungen sind ziemlich kurz gehalten. Sie dienen eher als Skizze zur groben Orientierung. Eigentlich erfordern allein diese vier Prinzipien die Abfassung eines weiteren Buches (sofern diese Prinzipien denn  stimmig sind und nicht doch durch anderes erweitert werden müsste, was ich eher glaube). Man bedenke allerdings, dass über das, was angeblich „Randthemen“ (Adiaphora?) sein sollen, bekanntlich seit Jahrhunderten unterschiedliche Einschätzungen vorliegen, die die Sache theologisch nicht einfacher machen (Taufe, Abendmahl, Leitungsstrukturen, Erwählung, freier Wille usw.). Wie dem auch sei, die Vorschläge Tills kann man guten Gewissens zu beherzigen versuchen.

Kapitel 8 fällt etwas aus dem Rahmen des Bisherigen, geht es dort doch um den großen Wurf für die Zukunft des Christentums, der Kirche Jesu Christi generell (S. 202-229), an dem Till viel zu liegen scheint Es setzt damit zugleich das bisher Besprochene auf einer höheren Ebene fort, wenn Till fragt, „wie Kirche sich ändern muss, damit der Umbruch nicht zum Abbruch, sondern zum Aufbruch führt“. Der unmittelbare Bezug von Markus Tills aktualisierter Anwendung von 2Chr. 20 ist im diesem Zusammenhang ziemlich stark, voller Ermutigungen und Wegweisung für die Leser, die möglicherweise vor einer vergleichbaren hoffnungslosen Situation des „Risses“ stehen (S. 204-210). Ergänzend dazu, soll die christlich-geschwisterliche „Liebe zueinander“ wieder neu entdeckt werden, rät Till (S. 201-214), und auch das Kreuz und die Gnade müssten in den Mittelpunkt gestellt bleiben (S. „215-218). Die Fülle des Geistes sei außerdem zu suchen (S. 218-220). Till empfiehlt zudem, dass gute Apologetik getrieben werden müsse (S. 220-223) und die Einheit „richtig“ angestrebt werden müsse (S. 223-228). Das Kapitel leitet dann über zur bleibenden Hoffnung des Ausblicks (ab S. 229ff.), dass Kirche – um Gottes Willen – eine garantierte Zukunft habe (S. 230-237).

Markus Till will sich jedenfalls angesichts der „Zeit des Umbruchs“ unter Evangelikalen und Postevangelikalen nicht entmutigen lassen, sondern die Hoffnung hochhalten, dass Schritte auf dem Weg aufeinander zu in einer Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen möglich bleiben und dass es einen Aufbruch geben kann, der für ihn vorrangig mit dem Gebet beginne. Ob allerdings dieser Aufbruch durch „Gebetshäuser“ und ähnliche aktuelle „Aufbrüche“ und Bewegungen – die Till erwähnt – tatsächlich für den gewünschten Aufbruch hin zu einer Einheit sorgen könnte oder bereits dafür kennzeichnend sein könnte, muss ich begründet in Frage stellen, erscheinen die von Till aufgezeigten theologischen „Knackpunktthemen“ dort doch besonders „fragwürdig“ gelöst worden zu sein bis gar nicht thematisiert zu werden. Da bleiben in meinem Urteil die gewünschten Hoffnungszeichen doch eher blass.

Die Hinweise, institutionell und kirchenstrukturell auf eine Freiwilligenkirche zuzugehen, sind sympathisch. Ekklesiologisch müsste da allerdings noch so manches dicke Brett bibel-theologisch gegründet gebohrt und Überzeugungsarbeit unter Christen geleistet werden, um diese Zielsetzung realistisch umzusetzen. Doch Tills Wunsch nach Erneuerung der Kirche entspricht der Sehnsucht vieler Mitchristen, quasi im Sinne von neuen „pia desideria“ für das 21. Jahrhundert. Also, so verstehe ich Tills Plädoyer durch sein Buch: Mit Gottes Hilfe und mit Jesus Christus, mutig voran!

 

Abschließendes Fazit:

Was mir zusätzlich zum bereits Gesagten gefällt: Das Buch ist durchweg sehr gut und leicht zu lesen. Es ist sprachlich und stilistisch ausgezeichnet geschrieben. Es überfordert in keinem einzigen Teil durch exorbitante Fachsprache oder komplizierte Erörterungen von theologischen oder naturwissenschaftlichen Sachverhalten. 185 Anmerkungen erlauben es dem Leser, die Quellen einzusehen oder Sachverhalte genauer zu untersuchen. Die Analogien aus Alltäglichem, aus Weltbewegendem oder aus interessanten Begebenheiten zu Beginn jedes Kapitels sind sehr passend; sie lockern auf und bringen auch eine gewisse Leichtigkeit in das Thema hinein. Die vielen ausgewählten empirischen Beispiele aus der evangelikalen und postevangelikalen Welt sind treffend und nicht selten emotional berührend oder aufrüttelnd.

Was mir zusätzlich zum bereits Gesagten fehlt: Aus evangelikaler Perspektive hätte dem Buch ein weiteres Kapitel gut getan, das sich inhaltlich mit dem nicht unwichtigen Thema der „Häresie“ beschäftigt. In vielen der diskutierten Bereiche geht es ja nicht einfach lapidar um subjektive Meinungen, um Nickelichkeiten oder um banale Querelen unter Christen, sondern um das ernsthafte Ringen um (objektive) Wahrheit in der Abwehr von echtem Irrtum. Bekenntnisse der Kirche enthielten stets zustimmende (affirmative) und zu glaubende und dann auch zu verwerfende Lehren, Praktiken, Meinungen, Verhaltensweisen. Dieser Aspekt, der von Markus Till in seinem Buch durchaus nicht unterschlagen wird, hätte m.E. im Konzept des Buches prominenter thematisiert werden müssen, eingebettet in die Struktur des Buches, das um Einheit und Verständnis füreinander und um Annäherung statt Trennung wirbt.

Wie weiter oben bereits gesagt: Tills Buch ist ein wichtiger Meilenstein, dem jetzt noch weitere folgen müssen! Das Buch sollte weit verbreitet in Umlauf gebracht, gründlich studiert und entsprechende Konsequenzen ziehend in die Praxis des Dialogs zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen umgesetzt werden. Danke für diesen wertvollen Input.

Pfr. Dr. Berthold Schwarz

Gießen

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